Mancher mag sich an dem Begriff Gründe stoßen. Damit wäre ein Anfang gemacht, ins Gespräch zu kommen.
Gründe haben normativen Charakter. Sie begründen theoretisch das praktische Handeln im Sinne der Neuen Versorgungskommunikation. Eine von Gründen geleitete Versorgungskommunikation vertraut auf die Vernunftfähigkeit der kommunizierenden Gesundheitsakteure und interveniert dort, wo diese Vernunft selbst verschuldet vermisst werden kann.
Der Begriff "normativ" bezieht sich auf das, was sein soll, also auf Regeln oder Prinzipien, die vorschreiben, wie etwas sein oder wie jemand handeln sollte. Es geht um die Frage des Sollens und nicht des bloßen Seins. Sein wird üblicherweise beschrieben mit dem, was der Fall ist. Normative Gründe sind Gründe, die eine Bewertung beinhalten – sie sagen uns, was wir tun sollten. Im engeren Sinne kennen wir keine deskriptiven Gründe. Auf die Frage, warum ein Arzt diesen Menschen operiert habe, wird er üblicherweise antworten, weil sein Berufsethos und wissenschaftlicher Gründe diese Art des Vorgehens als geboten sehen. Die Antwort, weil der Patient als Nächstes dran war oder mir für eine Operation aufgetragen wurde, bettet sich als Ursachenbeschreibung in einen kausalen Zusammenhang und wäre nicht hinreichend als Grund zu betrachten. In der zweiten Antwort lässt sich lediglich eine Ursachenbeschreibung erkennen.
Normative Gründe sind immer eng mit der Vernunft und Rationalität verbunden. Sie geben an, warum eine bestimmte Handlung vernünftig oder geboten ist, und basieren auf Prinzipien oder Überlegungen, die als vernünftig gelten. Wenn jemand also eine Entscheidung trifft, die auf normativen Gründen beruht, dann ist diese Entscheidung durch eine rationale Abwägung motiviert, die eine gewisse Wertung oder Empfehlung impliziert.
An diesem Umstand lässt sich schlüssig argumentieren, warum wir in der Neue Versorgungskommunikation eine von normativen Gründen geleitete Gesundheitskommunikation anstreben, die sich an den erwähnten Essenzen verantwortlich, genügsam, befähigend und kooperativ orientiert. Wir haben festgestellt, dass normative Gründe als vernünftig anerkannt werden dürfen. Einer Unterscheidung zwischen rational und vernünftig folgen wir nicht. Aus guten Grund.
In seinem Buch "Eine Theorie Praktischer Vernunft" argumentiert der Philosoph Julian Nida-Rümelin gegen eine strikte Trennung von praktischer Vernunft und Rationalität. Die Annahme, eine Handlung könnte rational, aber nicht vernünftig sein, würde zu unauflösbaren Widersprüchen führen. Daher betrachte er "vernünftig" und "rational" als Synonyme, die ein und dieselbe Grundidee ausdrücken: Das begründete, überlegte und verantwortungsvolle Handeln auf der Basis guter Gründe.
Rationale Handlungen sind somit immer auch vernünftig, da sie im besten Interesse aller Beteiligten liegen und auf einer soliden Argumentationsgrundlage basieren.
Konkret lässt sich dort nachlesen: Wenn praktische Vernunft und Rationalität unterschiedliche Kriterien der Beurteilung bereitstellen würden, wäre es möglich, eine Handlung, gegen die überwiegende gute Gründe sprechen, als rational zu deklarieren. Die Absurdität dieser Implikation liegt auf der Hand: Ganz sicher wollen wir nicht zulassen, dass eine Handlung als rational gilt, gegen die sowohl aus Sicht der handelnden Person, wie aus Sicht Dritter gute Gründe sprechen?
In den vergangenen Jahren hat sich mancherorts im Gesundheitswesen ein Zustand der Entfremdung eingeschlichen, der die Anerkennung einer Gleichsetzung zwischen Vernunft und Rationalität aufzulösen droht. Versäumnisse der Politik und das unter diesen Bedingungen schwieriger gewordene Management von Gesundheitseinrichtungen fördert so manch bedenkliche Praxis. Falsche (primär finanzielle) Anreize, wie sie allgegenwärtig genutzt werden, gelten als rational gegeben, folgt man den dazu vorgebrachten Argumentationen. Diese Argumente lassen sich jedoch im Sinne einer erweiterten Verantwortung nicht als vernünftig erachten. Das Gesundheitswesen navigiert ziellos in einer raumfordernden Vertrauenskrise und richtet sein kommunikatives Handeln an vermeintlich rationalen Gründen aus, was bei genauerer Betrachtung kaum vernünftig erscheint.
Die Abwägung von Gründen – unsere Deliberationen mit uns selbst und anderen – setzt auf Strukturelle Rationalität, was nichts anderes besagt, als dass die ›strukturell rationale Person um die Überlegenheit strukturierten Verhaltens weiß‹ (vgl. Nida-Rümelin, PHILOSOPHIE – Einführung in die Praktische Philosophie, ZEIT VERLAG).
Im Kontext der Neuen Versorgungskommunikation ist es essenziell, nicht nur einzelne Handlungen auf ihre Rationalität hin zu prüfen, sondern auch die Kohärenz und Konsistenz des gesamten Kommunikationssystems zu berücksichtigen. Hier kommt der Gedanke der Strukturellen Rationalität ins Spiel. Dieser besagt, dass Rationalität über die reine Nutzenmaximierung einzelner Akteure hinausgeht und die Gesamtstruktur des Systems, in diesem Fall das einrichtungsübergreifende Gesundheitsgeschehen, einbeziehen muss.
Strukturelle Rationalität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Kommunikationsprozesse so gestaltet sein sollten, dass sie verantwortlich, genügsam, befähigend und kooperativ gestaltet werden sollten. Verschiedene Kommunikationshandlungen und -strategien sollten widerspruchsfrei und kohärent sein und stets daraufhin geprüft werden. Die Neue Versorgungskommunikation setzt auf den Aufbau von Vertrauen und fördert informierte Gesundheitsbeziehungen.
Indem die Strukturelle Rationalität als Leitprinzip berücksichtigt wird, kann die Neue Versorgungskommunikation dazu beitragen, ein transparenteres, nachvollziehbares und effektiveres Gesundheitssystem zu gestalten, das den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht wird.
Dieser Vorschlag betont die Bedeutung der Gesamtstruktur und Kohärenz in der Gesundheitskommunikation, was über die Betrachtung einzelner rationaler Entscheidungen hinausgeht.
Strukturelle Rationalität geht über die reine Nutzenmaximierung hinaus und betrachtet die Kohärenz der Gesamtheit der Überzeugungen, Werte und Handlungen eines Individuums oder einer Gemeinschaft. Sie achtet darauf, dass das Denken und Handeln in sich konsistent und mit den eigenen Werten, Überzeugungen und Prinzipien normativ begründet werden kann.
Die Neue Versorgungskommunikation sehen wir eingebettet in eine sich mit der Zeit wandelnden kommunikativen Praxis, mit dem Ziel Gesundheit gelingen zu lassen. Wir verfolgen also einen diachronen Ansatz, der die Veränderungen berücksichtigt und eine von Gründen geleitete, vernünftige Gesundheitskommunikation arrangiert, die in ihrem kulturellen Eigenwert als strukturell rational gelten wird, weil sich auf anachronistische Reflexe und affektive Vieltuerei verzichtet. Letztere stehen unter dem Verdacht, irrational zu sein.