Dieses Dokument stellt die Neue Versorgungskommunikation vor, die auf ethischen Prinzipien basiert und eine strukturell rationale Gesundheitskommunikation fördert. Sie umfasst die Essenzen von Verantwortlichkeit, Genügsamkeit, Befähigung und Kooperation, die eine ethische, patientenzentrierte und gemeinschaftsorientierte Praxis unterstützen. Der Ansatz fordert eine Abkehr von rein absatzorientierten Kommunikationspraktiken hin zu einer Kultur, die auf praktischer Vernunft basiert und eine neue Gesundheitskultur fördert. Die Essenzen dienen als Orientierungspunkte in einer zunehmend komplexen Gesundheitslandschaft und ermöglichen es, gesundheitsbezogene Entscheidungen auf nachvollziehbaren Gründen zu basieren.

Präferernzem

Eine von Gründen geleitete Gesundheitskommunikation

Praktiziert wird die Neue Versorgungskommunikation von professionell am Gesundheitsgeschehen Beteiligten. In Abgrenzung zur traditionellen Öffentlichkeitsarbeit und Marketingkommunikation lautet der Vorschlag, für ein von Gründen geleitetes, kommunikatives Handeln durch alle am Gesundheitsgeschehen Beteiligten einzustehen.

Es geht uns nicht um einen weiteren Vorschlag für einen innovativen Kommunikationsansatz. Wir suchen den Fortschritt. Besonders jetzt – wo kommunikatives Handeln durch eine hypervernetzte Gesellschaft und neu auftauchenden Aktanten wie Smartphones und Algorithmen bereits unter gravierendem Veränderungsdruck steht.

Wie Harald Welzer in seinem Buch »Nachruf auf mich selbst« betont, basierte jeder wesentliche Fortschritt im Zivilisationsprozess auf der Verbesserung der Verhältnisse zwischen den Menschen, und die Technik kam dabei nur dann zu Hilfe, wenn man wusste, wie man sie zu dieser Verbesserung einsetzen konnte. Alle Veränderung muss sich immer auf einen normativen Zweck hin begründen, was dann herauskommt, ist nicht Innovation, sondern Fortschritt. In diesem Sinne suchen wir nicht die Optimierung des Falschen, sondern den Durchbruch in ein neues Paradigma (Welzer, 2022). Wir dürfen uns heute die Frage stellen, wer wir gewesen sind, wenn wir eines Tages in einem Rückblick nach jenem Fortschritt suchen, der in diesen Tagen in Aussicht gestellt wird. Was bei allem Technofieber vergessen wird, ist der Mensch in Gesellschaft.

Mit einem normativen Kern ausgestattet, reift die Neue Versorgungskommunikation idealiter zum Paradigma und damit zur allgemeinen Praxis für gelingende Gesundheitskommunikation. In Abgrenzung zu absatzorientierten und manipulativen Kommunikationsdisziplinen besteht die Neue Versorgungskommunikation aus einem bedeutungsvollen Wertekanon, der sich als Teil der Leistungserbringung im Sinne eines ethischen Humanismus versteht. Verantwortlichkeit, Genügsamkeit, Befähigung und Kooperation definieren wir als Essenzen und skizzieren so eine Landkarte, in der sich durch die gemeinsame Praxis der Abwägung nach und nach Routen und Versammlungsplätze (vgl. Konstellationen) ergeben, die bearbeitet werden wollen. Die Essenzen der Neuen Versorgungskommunikation stecken den Rahmen für die gemeinsame Diskussion und Entwicklung normativer Gründe. Mit Gründen beschreiben wir keine starren Prinzipien, sondern vielmehr eine Einheit anzustrebender Vernunft, die für eine gelingende Gesundheitskommunikation steht. Ethische Implikation für kommunikatives Handeln lassen sich so frühzeitig in den Blick nehmen. Steilhänge und nicht ohne Verletzung überwindbare Hindernisse können umgegangen werden. Die Neue Versorgungskommunikation folgt den Ansprüchen verantwortlich, genügsam, befähigend und kooperativ zu sein.

Die Neue Versorgungskommunikation gilt als strukturell rational, weil sie auf einem fundierten ethischen Fundament aufbaut und systematisch die Komplexität des Gesundheitswesens berücksichtigt. Durch die vier Essenzen - Verantwortlichkeit, Genügsamkeit, Befähigung und Kooperation - schafft sie einen kohärenten Rahmen für kommunikatives Handeln, der auf praktischer Vernunft basiert. Diese Struktur ermöglicht es, Entscheidungen und Kommunikationsstrategien nicht willkürlich oder rein intuitiv zu treffen, sondern sie auf Basis nachvollziehbarer Gründe zu entwickeln und zu rechtfertigen. Indem die Neue Versorgungskommunikation fallibel bleibt und sich an der Realität orientiert, bleibt sie anpassungsfähig und kann auf neue Herausforderungen reagieren, ohne ihre grundlegenden Prinzipien zu kompromittieren. Diese Kombination aus ethischer Fundierung, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit macht die Neue Versorgungskommunikation zu einem strukturell rationalen Ansatz, der den komplexen Anforderungen des modernen Gesundheitswesens gerecht wird.

So berücksichtigen wir die komplexer werdende Wirklichkeit im Gesundheitswesen (Realismus) und bleiben fallibel. Damit ist gemeint, dass wir zukünftigen Entwicklungen abringen, eine bislang als sinnvoll erachtete Praxis zu hinterfragen und notfalls zu korrigieren. Die Essenzen dienen somit als Orientierungspunkte und Einstieg in den Diskurs, der in der gemeinsamen Praxis aus Deliberationen und Erfahrungsaustausch lebendig bleibt.

Die Neue Versorgungskommunikation ist also keine Theorie im ursprünglichen Sinne oder Handlungsempfehlung. Sie ist ein Vorschlag, der eine neue Gesundheitskultur fördert, Emergenz provoziert und seinen kulturellen Eigenwert entfaltet, Gesundheit als gesellschaftliches Projekt neu zu begreifen und die Arbeit von Gesundheitseinrichtungen mithilfe des zentralen Anspruchs der Kommunikation auf neu zu würdigen.

Wer in den Essenzen einen verknüpften (roten) Faden erkennen möchte, liegt richtig. Gemeinsam ergeben die vier Essenzen ein Seil oder Tau, das wir quer zur traditionell als recht empfundenen Gesundheitskommunikation in den Diskurs sich verändernder Gesundheitsmärkte eintragen. Diese Achse dient als Kristallisationspunkt, an dem sich im Laufe der Zeit die Gründe für eine neue, ethisch fundierte und vernunftgeleitete Gesundheitskommunikation anlagern. So entsteht Orientierung für innovative Ansätze und verantwortungsvolles Handeln in sich verändernden Gesundheitsmärkten. Um Werte zu bilden, muss der auskristallisierende Stoff zunächst in Übersättigung gebracht werden.

Die vier Essenzen beschreiben sich gemäß gängiger Interpretationen des antiken Begriffs (essentiae) als Wesenheiten. Die Essenzen der Neuen Versorgungskommunikation sind wesentlich für praktisch vernünftiges Handeln.

Erste Essenz: Verantwortliche Versorgungskommunikation

Gelingende Gesundheit beginnt mit Verantwortung durch kommunikatives Handeln aus Gründen. Verantwortung als Begriff meint, Antworten geben zu können. Antworten, die im Prinzip jede Handlung rechtfertigen; hier primär die kommunikative Handlung von Akteuren. Ärztinnen und Ärzte geben ihre Antwort beispielsweise gegenüber Patientinnen und Patienten. Das beginnt schon vor einer Konsultation, Diagnose, Therapie oder Aufnahme und setzt sich darüber hinaus fort.

Diese Essenz ist zentral für eine ethische Kommunikation im Gesundheitswesen. Verantwortliches Handeln bedeutet, dass Akteure in der Lage sind, ihre Handlungen zu rechtfertigen, was im Kontext der Gesundheitskommunikation entscheidend ist, um Vertrauen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Verantwortlichkeit erfordert, dass Informationen klar, präzise und wahrheitsgetreu vermittelt werden, um Missverständnisse oder Fehlentscheidungen zu vermeiden. Dies entspricht der praktischen Vernunft, indem es den rationalen Diskurs fördert und ethische Standards hochhält.

In den letzten Jahren hat sich hinsichtlich der Bedürfnisse etwas verschoben. Während wir große Konzepte wie die Partizipative Entscheidungsfindung beraten, stellen Betroffene fest, dass Gesundheitseinrichtungen immer häufiger inkohärent kommunizieren. Da liegt einerseits an der wachsenden Komplexität, andererseits werden Informationen bei Patienten vorausgesetzt oder einseitig als nicht bedeutungsvoll erachtet. Das ist keine Petitesse, sondern der Beginn einer Erosion von Verantwortung. Wir kommen nicht mehr zurück zu jenen Zeiten, in denen sich das erlaubte. Patienten nehmen ihre Verantwortung heute selbst sehr ernst, was man daran erkennen kann, dass sie sich kümmern und selbst nach Gründen suchen, wie es zu einer Diagnose kam oder warum ausgerechnet dieser eine Therapievorschlag infrage kommen sollte. Seit Jahrzehnten ändert sich etwas in der Struktur des Gesundheitsgeschehens auch in dieser Hinsichtlich. Wir sprechen darüber im Abschnitt Demokratisierung, eine wichtige Konstellation der Neuen Versorgungskommunikation, die nicht nur positive Facetten fördert.

Akteure, die Gründe für ihr Handeln angeben können, unterstellen wir im Sinne der praktischen Vernunft diese Verantwortung. Verantwortung heißt dann, kommunikatives Handeln strukturell rational auszurichten.

Das Geflecht von Gesundheitsbeziehungen ist im modernen Gesundheitswesen längst nicht mehr auf zwei Akteure begrenzt. Das bringt besondere Herausforderungen mit sich. Eine dieser Verantwortungen sei an dieser Stelle bereits genannt. Gesundheit lässt sich augenscheinlich nicht auf ein einzelnes Prinzip zurückführen. Daraus erwächst die Verantwortung, Menschen einzuladen, sich ein möglichst vollständiges Bild gemäß ihrer epistemischen Bedürfnisse zu machen.

Ein in Krankheit geworfener Mensch wäre in diesem Sinne kein Fall. Epistemische Ungerechtigkeit ist ein Begriff, den Miranda Fricker ins Gespräch brachte, um klarzumachen, wenn in unserem Fall Patientinnen und Patienten institutionell die Fähigkeit abgesprochen wird, relevantes Wissen zu erlangen und verlässliche Wahrnehmungen mitzuteilen.

Die Würde des Menschen bleibt auch in Gesundheitseinrichtungen unantastbar und das beginnt mit einem sinnvollen Angebot, sich mit den gesundheitlichen Tatsachen vertraut machen zu können. Zuhören ist eine zentrale epistemische Tugend. Die Ausrichtung der kommunikativen Praxis im Sinne eines verantwortlichen Handelns ohnehin.